Duzen oder Siezen, das ist hier die Frage

Im Deutschen wird bei der Anrede zwischen dem informellen Personalpronomen („du“) und dem formellen Personalpronomen („Sie“) unterschieden. Diese Besonderheit (im Englischen als „T/V distinction“ bekannt) ist in den indoeuropäischen Sprachen Europas sehr verbreitet, unter denen das Englische heute eine Ausnahme ist. Historisch gesehen ist der Singular „du“ im Deutschen, zumindest etymologisch gesehen, ein perfektes Äquivalent zum früheren Singular der zweiten Person thou im Altenglischen. „Sie“ wiederum ist im Deutschen die dritte Person Plural, wobei sich die Höflichkeitsform durch den Großbuchstaben S vom einfachen Pronomen „sie” unterscheidet. Das Höflichkeitspronomen „Sie“ bleibt im Singular wie im Plural gleich, impliziert aber aufgrund seiner grammatikalischen Ableitung immer eine Konjugation im Plural.

Es ist zwar richtig, dass Deutschsprachige den Sinn des Satzes immer verstehen werden, unabhängig davon, ob „du“ oder „Sie“ verwendet wird. Es ist jedoch nicht möglich zu behaupten, dass die Verwendung des einen oder des anderen Pronomens keine Rolle spielt. Um angemessen zu kommunizieren, muss man seine Aussage dem Kontext anpassen. Die Entscheidung zwischen Duzen und Siezen hängt von sozialen Faktoren ab, die man nur aus dem Kontext ableiten kann. Insbesondere Übersetzer müssen sich dessen bewusst sein, um die richtige Wahl zu treffen.

Welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung zwischen „du“ und „Sie“?

Verschiedene Faktoren können die Entscheidung für das Duzen oder Siezen bestimmen. Diese lassen sich aus dem Kontext ableiten, das heißt von der Person, die man anspricht, oder auch von dem Ort, an dem man sich befindet.

Was die Person betrifft, so sollten Merkmale wie Alter, Funktion oder der Grad der Nähe zwischen den beiden Gesprächspartnern berücksichtigt werden. Es lassen sich eine Vielzahl von Szenarien entwerfen. Wir können uns beispielsweise die Beziehung zwischen Schülern und ihrem Lehrer vorstellen. In einer solchen Situation ist es sehr wahrscheinlich, dass die Schüler ihren Lehrer siezen, und das wird sogar systematisch vorausgesetzt. Andererseits ist nicht gesagt, dass der Lehrer das Pronomen „Sie“ verwenden würde, um einen Schüler anzusprechen. „Du“ wird auf jeden Fall benutzt, um Schüler in der Schule anzusprechen, die noch nicht erwachsen sind. Die Verwendung von „Sie“ impliziert also ein soziales Gefälle, ein Zeichen des Respekts gegenüber einer Person wie dem Lehrer, aber auch das Alter ist von Bedeutung. Wenn sich ein Jugendlicher und ein Erwachsener, die sich nicht kennen, begegnen, spricht der Jüngere den Erwachsenen in der Regel mit „Sie“ an, während der Erwachsene den Jugendlichen duzt, so wie es ein Lehrer gegenüber Kindern tun würde.

Auch das Umfeld spielt eine wichtige Rolle. Es gibt Orte, an denen informelle Gespräche eher möglich sind, während dieselben Redner unter anderen Umständen einen förmlicheren Ton anschlagen könnten. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Beziehung zwischen Angestellten und ihren Vorgesetzten. In der Regel bedeutet das Arbeitsumfeld, dass sich alle gegenseitig siezen. Es ist aber auch sehr wahrscheinlich, dass sich Arbeitskollegen untereinander duzen. So muss bei einer internen Übersetzung innerhalb eines Unternehmens berücksichtigt werden, an wen sich das übersetzte Dokument richtet.

Außerdem ist es interessant festzustellen, dass im Deutschen eine automatische Nachricht, die beispielsweise von einem Computer oder einem virtuellen Assistenten (z. B. Siri, Cortana oder „OK Google“) stammt, eher dazu neigt, den Nutzer zu duzen, während im Französischen in der gleichen Situation das Siezen bevorzugt wird.

Welche sozialen Bedeutungen hat die Entscheidung zwischen Duzen und Siezen?

Bislang wurden hier mehr oder weniger typische Situationen kommentiert, indem das Verhalten von Sprechern in solchen Kontexten spezifiziert und die allgemeine Regel erklärt wurde. Nun könnte man sich fragen, welchen Unterschied es machen würde, wenn diese „Regeln“ nicht beachtet würden.

Um zu verstehen, wie wichtig die Unterscheidung zwischen „du“ und „Sie“ ist, lässt sich wieder das Beispiel des beruflichen Rahmens heranziehen. Wenn in einer solchen Situation ein Angestellter seinen Chef duzt, könnte dies als Mangel an Respekt gewertet werden, zumal es sich um eine in der Hierarchie höherstehende Person handelt. Allerdings ist die Hierarchie nicht der einzige Aspekt, der zu berücksichtigen ist. Sobald man mit jemandem spricht, den man nicht persönlich kennt, muss eine gewisse Distanz gewahrt werden, auch das ist eine Form von Respekt. Dabei kann es sich um einen Unbekannten auf der Straße, einen Briefträger oder einen Verkäufer handeln. Diese Regeln sind jedoch keineswegs starr, und in einigen Unternehmen dürfen Mitarbeiter ihre Vorgesetzten duzen oder werden sogar dazu ermutigt. Es ist daher auch die Aufgabe des Übersetzers, sich über die Gepflogenheiten des Unternehmens, für das er arbeitet, zu informieren, unabhängig davon, ob die Übersetzung für Mitarbeiter oder Kunden bestimmt ist. In einem Hotel wird man den Gast sicherlich siezen, in einer Bar zum Beispiel, wo die Atmosphäre lockerer ist, ist das nicht unbedingt der Fall.

Die unpassende Verwendung von „Sie“ anstelle von „du“ kann allerdings auch sehr seltsam klingen. Die Verwendung von „du“ markiert manchmal die Verbundenheit mit einer Gruppe und zeigt eine Form der Solidarität mit ihr. Wenn man andere Vereinsmitglieder oder Studenten siezt, wirkt man etwas distanziert, zurückgezogen vom Rest der Gruppe. Die Wahl des richtigen Pronomens für die Ansprache des Zielpublikums ist also entscheidend, um die Botschaft effektiv zu vermitteln.

Was ist beim Deutschstudium und bei der Übersetzung zu beachten?

Die richtige Entscheidung zwischen Duzen und Siezen ist immer eine Frage des Kontexts. Eine Sprache besteht nicht nur aus Syntax und Grammatik. Es gibt auch eine kulturelle Dimension, die berücksichtigt werden muss, wenn der Lernende seine tatsächlichen kommunikativen Fähigkeiten in der Zielsprache unter Beweis stellen will. Im Deutschen ist es nicht unbedeutend zu wissen, wann man sich duzt oder siezt. Auch wenn die Entscheidung manchmal schwierig ist, so ist es doch ein Beweis dafür, dass der Lernende weiß, wie er reagieren muss, wenn er mit einer bestimmten Person in einem bestimmten Kontext spricht, und das unterscheidet ihn von einem Anfänger.

Wenn man aus dem Deutschen ins Französische oder umgekehrt übersetzt, könnte man sich vorstellen, dass das Duzen und Siezen auf die gleiche Weise funktioniert und leicht übertragbar ist. Es gibt zweifellos Ähnlichkeiten in der Funktionsweise des Siezens zwischen dem Deutschen und dem Französischen, aber bei der Übersetzung ist es nicht überflüssig, sich zu fragen, ob es in der Zielsprache sinnvoller wäre, das eine Pronomen anstelle des anderen zu verwenden. Der Übersetzer könnte es – je nach Kontext – für sinnvoll halten, die Art und Weise, wie er seine Leser anspricht, anzupassen.

Alexandre Michel


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